Die Faszination für Berge wurde Anja Blacha nicht in die Wiege gelegt. Sie ist im Flachland in Bielefeld aufgewachsen und war 23 Jahre alt, als sie das erste Mal in Wanderschuhe stieg. Heute zählt sie zu den erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen und hat neun 8000er ohne Flaschensauerstoff erklommen. Nach der Höhe und einem Rekord für die Seven Summits zog es sie für eine neue Herausforderung in die Weite: 2019/2020 lief sie in 58 Tagen 1400 Kilometer weit bis zum Südpol – komplett allein. Ein Jahr vor diesem Weltrekord stand sie zum ersten Mal auf Langlaufskiern.
«Wir unterschätzen, was wir in einem Jahr erreichen können», sagte sie zum Anfang ihres Referats an der OST – Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil-Jona. Das Thema des Abends: Wie erweitern wir unseren Horizont? Wie versetzen wir Grenzen? Wie legen wir neue Spuren? Im Publikum sassen Studierende und Mitarbeitende der OST, die sich auf eine Expedition zum Südpol mitnehmen liessen. Nur einzelne der rund 70 Gäste hatten die Hand gehoben auf die Frage, wer bereits mit dem Gedanken gespielt hatte, einmal an den Südpol zu reisen. Anja Blacha setzt sich als Extremsportlerin aussergewöhnlichen Risiken und Ungewissheiten aus. Ihre Erfahrungen teilt sie aber auf eine Weise, dass sie auch für den Alltag fernab der Polarkreise anwendbar und bereichernd sind. Insbesondere für angehende Ingenieurinnen und Ingenieure, die mit ihren Entwicklungen neue Wege beschreiten wollen.
Neugier als Antrieb
«Der initiale Funke für tolle Projekte ist Neugier», zeichnet die 34-Jährige den Startpunkt ihrer Erfolge nach. Wie wird man neugierig? «In dem man mit offenen Augen durch die Welt geht.» Wichtig sei mit sich zu klären, wie weit man zu gehen bereit sei. «Es bringt nichts, sich die Grenzen dort zu setzen, wo andere sie sehen.» Schon bei ihrer ersten Expedition auf den Mount Everest ist Anja Blacha im Basislager gefragt worden, wie hoch sie hinauswolle. Anjas Antwort: «Ich bin hier, um den Gipfel zu erreichen.» Zugetraut hat ihr das, dieser zierlichen, nicht allzu grossgewachsenen Frau, fast niemand. Das Rezept, um es trotzdem zu schaffen, sei eine starke Zielklarheit: «Wenn wir uns ein klares Ziel setzen und genau wissen, was wir erreichen wollen, ist der Rest Vorbereitung.» Diese Vorbereitung gelte es in Etappen aufzuteilen, akribisch zu planen und dann mit Eigeninitiative umzusetzen: «Auch wenn es hart ist, wenn man nur sich selbst die Schuld geben kann, wenn etwas nicht funktioniert.»
So stand Anja Blacha 2019 nach unzähligen Trainingsstunden, langen Excellisten und ausgiebigen Gesprächen mit Expertinnen und Experten - «denn auch eine Solo-Expedition ist Teamwork» - an der Küste der Antarktis. Hinter ihr ein 100 Kilogramm schwerer Schlitten, sieben zusätzliche Kilos auf dem Rücken – der gesamte Proviant für zwei Monate in der Eislandschaft. Bis zu 5500 Kalorien musste sie jeden Tag zu sich nehmen. «Damit mich der ständige Hunger, der eine solche Expedition begleitet, nicht überlistet, hatte ich meine Tagesrationen genau berechnet und vorgepackt.» Man könnte sagen, sie hatte rund 66 grosse Lunchpackages dabei. Oder: Man bricht eine grosse Herausforderung in kleine Einheiten herunter.
Mut als Errungenschaft
«Dem Start liegt der bekannte Zauber inne», beschrieb Anja Blacha den Moment, in dem sie das Flugzeug hinter sich liess und ins Eis aufbrach. Der Zauber hielt vier Tage. Dann brach ein mehrtägiger Sturm auf. «Ich sass in meinem Zelt und hatte grosse Zweifel. Bis ich realisierte, dass im Zelt, in der vermeintlich sicheren Zone, alles viel bedrohlicher klang, als es sich draussen anfühlte.» Trotz Wind, eisiger Kälte und einer so schlechten Sicht, dass sie nicht einmal den Boden unter ihren Füssen sehen konnte, hat sie jeden Tag einige Kilometer zurückgelegt. «Mit jedem Mal, wenn ich mein Zelt verliess, stieg mein Selbstvertrauen. Mut ist wie ein Muskel, er muss trainiert werden.»
Nachgiebigkeit als Kontrast
Mit jedem zusätzlich zurückgelegten Kilometer, dem ewigen Weiss, das immer monotoner und einer Stille, die immer grösser wurde, als das Spotify-Abo nach 30 Tagen auslief, galt es eine andere Herausforderung zu meistern: (Un)nachgiebigkeit, nennt es Anja Blacha. «Ich war schon als Kind stur. Aber ich habe unterwegs gelernt, dass Nachgiebigkeit genauso hilfreich sein kann wie Unnachgiebigkeit.» Sie beschrieb, wie sie unterwegs realisiert habe, dass sie die Tage an einem Ort, an dem permanent die Sonne scheint, nicht in das Konzept von 24 Stunden zwängen muss. «Als ich mich von unserem Zeitkonzept löste, wurden die Tage zu einer flexiblen Einheit. Das hat mir viel Freiheit geschenkt.»
Erfindergeist in der Zusammenarbeit mit dem IPEK
Anja Blacha ist an der OST keine Unbekannte. Sie arbeitet in mehreren Projekten mit dem IPEK Institut für Produktdesign, Entwicklung und Konstruktion zusammen. «Das Ziel ist es, Anjas Ausrüstung, die in Schnee, Eis und extremen Höhenlagen enormen Belastungen ausgesetzt ist, weiterzuentwickeln», erklärt Prof. Dr. Albert Loichinger. «Für unsere Studierenden bieten solche Kooperationen besonders interessante Möglichkeiten für Studien- oder Bachelorarbeiten.» Inspiration, wie man ein solches Projekt angehen kann, haben sie mit Anja Blachas Vortrag bereits erhalten.