Gepäck verloren? Flug verpasst?
01.07.2024
Ferienzeit ist Erholungszeit. Vor, während und nach den Ferien lauern jedoch zahlreiche juristische Probleme, die drohen, einem den wohlverdienten Urlaub zu vermiesen. Dr. iur. Roman Schister, Leiter des Kompetenzzentrums Business Law, erklärt im Interview, was in solchen Situationen gilt.
Wie viel Ferien habe ich eigentlich zugute?
Das kommt auf das Anstellungsverhältnis an. Für privatrechtliche Anstellungen sieht das Obligationenrecht vor, dass bis zur Vollendung des 20. Altersjahres ein Anspruch auf mindestens fünf Wochen Ferien pro Jahr besteht. Ältere Arbeitnehmende haben einen Mindestanspruch auf vier Wochen Ferien pro Jahr. Die Arbeitgeberin kann ihren Angestellten nicht weniger, wohl aber mehr Ferientage gewähren. In der Praxis ist dies auch recht verbreitet. Zahlreiche Unternehmen gönnen z.B. Arbeitnehmenden ab dem 50. Geburtstag etwas mehr Erholung.
Arbeitet man beim Staat, ergibt sich der Ferienanspruch aus dem jeweils anwendbaren Personalrecht. Angestellte des Kantons St.Gallen beispielsweise haben in der Regel 23 Ferientage pro Jahr zugute, Mitarbeitende unter 20 oder über 50 Jahren bekommen 28 Tage. Nach dem 60. Geburtstag besteht ein Anspruch auf 30 Tage Ferien.
Muss ich mir die Betriebsferienregelung meines Chefs gefallen lassen?
Viele Arbeitnehmende dürfte es erstaunen, aber der Zeitpunkt der Ferien wird grundsätzlich durch die Arbeitgeberin bestimmt. Das Gesetz sieht jedoch vor, dass die Arbeitgeberin auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden Rücksicht zu nehmen hat. Es muss also eine Abwägung zwischen den Interessen der Arbeitgeberin und jenen der Arbeitnehmenden vorgenommen werden.
Grundsätzlich kann die Arbeitgeberin Betriebsferien anordnen. Es ist sogar zulässig, das volle Ferienkontingent der Arbeitnehmenden in die Betriebsferien zu legen. Immerhin muss die Arbeitgeberin die Betriebsferien der Belegschaft rechtzeitig bekannt geben, und die Betriebsferien müssen tatsächlich aus betrieblich-organisatorischen Gründen erforderlich sein.
Kann ich Ferientage «ansparen» und mir so einen langersehnten grossen Urlaub gönnen?
Ferien sind nach dem Gesetz grundsätzlich im laufenden Dienstjahr zu beziehen. Da die Planung der Ferientage die Aufgabe der Arbeitgeberin ist, muss sie auch sicherstellen, dass die Ferien bezogen werden. Werden die Ferien nicht bezogen, verjähren sie nach fünf Jahren. Man kann sich Ferientage also gewissermassen «ansparen», aber nicht über einen längeren Zeitraum als fünf Jahre hinweg. Freilich kann die Arbeitgeberin diese Pläne durchkreuzen, indem sie von ihrem Recht Gebrauch macht, die Ferien anzuordnen.
Ich bin während meiner Ferien krank geworden. Kann ich die Ferien nachbeziehen?
Ferien dienen nach der gesetzlichen Vorstellung der Erholung. Ist man während der Ferien krank oder wegen eines Unfalls ausser Gefecht gesetzt, erreichen die Ferien ihren Zweck nicht. Kann die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer z.B. durch ein Arztzeugnis beweisen, dass eine Erholung nicht möglich gewesen ist, besteht ein Anspruch darauf, die «verlorenen» Ferientage nachzuholen.
Aber Achtung: Ein Nachholanspruch besteht wirklich nur, wenn die Erholung verunmöglicht wurde. Leichte Krankheitserscheinungen wie Kopfschmerzen, ein Schnupfen oder ein kürzeres Unwohlsein, die einen nicht ans Bett fesseln, stehen dem Ferienbezug nicht entgegen.
«Es lohnt sich, hartnäckig zu bleiben.»
Roman Schister, Leiter Kompetenzzentrum Business Law
Mein Flug in die Ferien hatte massive Verspätung. Was kann ich tun?
Das hängt davon ab, wohin und mit welcher Airline Sie geflogen sind. Gehen wir mal davon aus, dass Sie mit einer Airline mit Sitz in der Schweiz oder der EU aus der Schweiz in den Urlaub und anschliessend mit dieser Airline wieder zurück in die Schweiz geflogen sind.
Kommt es zu einer grossen Verspätung, besteht ein Anspruch auf kostenlose Verpflegung, weitere Betreuungsleistungen und allenfalls eine Unterkunft. Als gross gilt die Verspätung:
ab zwei Stunden, wenn die Flugstrecke bis zu 1'500 Kilometer beträgt;
ab drei Stunden, wenn die Destination zwischen 1'500 und 3'500 Kilometer entfernt liegt; und
ab vier Stunden bei längeren Distanzen.
Diese Leistungen sind in der europäischen Fluggastrechteverordnung verankert, die auch für Flüge aus der und in die Schweiz gilt. Eine weitere finanzielle Entschädigung sieht die Verordnung für Verspätungen nicht vor, sondern bloss bei Flugannullierungen.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jedoch entschieden, dass die Auswirkungen bei einer Verspätung von mehr als drei Stunden vergleichbar mit jenen einer Annullierung seien. Sofern die Fluggesellschaft nicht «aussergewöhnliche Umstände» geltend machen kann, schuldet sie daher eine pauschalisierte Entschädigung, und zwar in Höhe von:
EUR 250 bei einer Flugdistanz bis zu 1'500 Kilometern;
EUR 400 bei Distanzen zwischen 1'500 und 3'500 Kilometern; und
EUR 600 bei weiter entfernt liegenden Destinationen.
Das Problem für Schweizerinnen und Schweizer ist nun Folgendes: Diese EuGH-Rechtsprechung erging nach der Übernahme der Fluggastrechteverordnung in die Schweiz. Sie ist daher für die Schweiz nicht bindend. Die hiesigen Gerichte müssen daher im Einzelfall prüfen, ob ein Entschädigungsanspruch besteht oder nicht. Einzelne (untere) Gerichte haben den Anspruch abgelehnt, andere haben angedeutet, der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich zu folgen. Eine höchstrichterliche Entscheidung existiert nicht und darf aufgrund des geringen Streitwerts von maximal EUR 600 auch nicht erwartet werden. Die Rechtslage in der Schweiz ist also einigermassen unübersichtlich.
Trotz dieser unbefriedigenden Lage darf nicht übersehen werden, dass die Fluggesellschaften unter genügendem juristischem Druck häufig doch zahlen, weil sich das Verfahren für sie finanziell nicht lohnt. Melden Sie Ihren Anspruch deshalb auf jeden Fall bei der Airline an und bleiben sie hartnäckig.
Und was gilt, wenn mein aufgegebenes Gepäck verlorengegangen ist?
Kontaktieren Sie unbedingt das Fundbüro des Ankunftsflughafens oder melden Sie den Verlust online auf der Internetseite der Airline. In der Regel tauchen verlorengegangene Gepäckstücke innerhalb weniger Stunden wieder auf. Für die wichtigsten Ersatzartikel zur Überbrückung der Zeit, bis das Gepäckstück wieder bei Ihnen ist (z.B. Toilettenartikel oder Kleidung), kommt die Fluggesellschaft in einem beschränkten Rahmen auf.
Ist das Gepäckstück auch nach 21 Tagen unauffindbar (oder erkennt die Fluggesellschaft bereits zuvor den Verlust an), besteht ein Entschädigungsanspruch. Zur Geltendmachung des Anspruchs muss jedoch der Inhalt des Gepäckstücks angegeben werden. Es lohnt sich daher, vor der Abreise ein Foto des Kofferinhalts zu machen. Die Haftung der Fluggesellschaft ist sodann auf 1'288 sogenannte «Sonderziehungsrechte» beschränkt. Dies entspricht derzeit ungefähr CHF 1'500. Wertvolle Gegenstände transportieren Sie daher besser im Handgepäck.
Ich konnte nicht rechtzeitig aus meinen Ferien zurückreisen. Meine Chefin hat mir deshalb meinen Lohn gekürzt. Darf sie das?
In der Schweiz gilt der Grundsatz «ohne Arbeit kein Lohn»; wenn Sie nicht zur Arbeit erscheinen, muss grundsätzlich auch der Lohn nicht bezahlt werden. Davon gibt es natürlich Ausnahmen: Die bekannteste dürfte die Lohnfortzahlungspflicht bei Krankheit oder Unfall sein.
Wenn Sie nach den Ferien nicht zur Arbeit erscheinen, muss geklärt werden, was der Grund hierfür ist. Handelt es sich um einen Grund, der nur Sie persönlich betrifft und den Sie nicht verschuldet haben, wie die eben genannte Krankheit, muss die Chefin den Lohn weiterzahlen. Kommen Sie hingegen nicht rechtzeitig zur Arbeit, weil Sie den Flug verpasst haben, haben Sie den Arbeitsausfall verschuldet; Ihre Chefin muss den Lohn daher nicht bezahlen.
Handelt es sich dagegen um objektive Leistungshindernisse, die nicht in Ihrer Person begründet liegen, sondern zahlreiche Personen betreffen, muss geklärt werden, in wessen Risikosphäre der Hindernisgrund fällt. Häufig lassen sich diese Hindernisgründe weder der Risikosphäre der Arbeitgeberin noch jener des Arbeitnehmers zuordnen. So kann z.B. keiner von beiden etwas für politische Unruhen, Vulkanausbrüche, Unwetter oder andere Naturkatastrophen. In solchen Situationen werden beide Parteien von ihren jeweiligen Pflichten befreit. Das heisst, der Arbeitnehmer muss nicht arbeiten, die Arbeitgeberin schuldet jedoch auch keinen Lohn.