Am 3. St.Galler New Work Forum vom 8. Januar beleuchtet die Fachhochschule St.Gallen die neue Arbeitswelt und stellt die Frage, welche Arbeits- und Organisationskulturansätze geeignet sind, um die Herausforderungen der New Work zu beantworten. Der Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler beleuchtet die Arbeitswelt von morgen aus einer philosophischen Perspektive und sorgt in seinem Vortrag für Denkanstösse zum Wandel der Arbeitskulturen. Was Arbeitskultur für ihn konkret heisst, was sie leisten muss oder eben auch nicht und ob der Mensch vor dem Hintergrund der Digitalisierung in der Arbeitskultur von morgen überhaupt noch etwas zu melden hat, verrät er im Interview.
Philipp Tingler, was heisst Arbeitskultur für Sie und wie grenzen Sie diese von dem Begriff der Kultur ab? Ist dies möglich?
Philipp Tingler: Wenn man Arbeitskultur formal definiert als Muster, Normen und Dynamiken der Arbeitswelt, wird die Abgrenzung zu einem allgemeinen Kulturbegriff immer schwieriger, denn wir leben in einer Zeit der Ökonomisierung des Sozialen. Das heisst: Muster, Normen und Dynamiken, die charakteristisch für das Feld der Wirtschaft waren, wandern in soziale Felder auch ausserhalb der Ökonomie ein, zum Beispiel in die Sphäre der Kultur oder in das Gebiet der persönlichen Beziehungen. Auf diesen Feldern ist eine zunehmende Vermarktlichung festzustellen: Effizienzdenken, Konkurrenz und vor allem das Bemühen, herauszuragen, das Streben nach kultureller Einzigartigkeit. Für den Arbeitsmarkt wiederum bedeutet das, dass dieser gerade auf dem Feld hochqualifizierter Wissenstätigkeiten zu einem international grenzenlosen Attraktivitätsmarkt mit Wert- und Erlebnisversprechen geworden ist, der eine Kultur des Besonderen pflegt.
Arbeitskultur ist in den vergangenen Jahren zunehmend funktional ausdifferenziert worden. Sie muss zu etwas dienen, zum Beispiel die Innovationskultur, Vertrauenskultur oder Leistungskultur. Wie beurteilt ein Philosoph solche Bemühungen, Kultur mit einem Zweck «aufzuladen»? Und (wie) lässt sich Kultur in einem Arbeitskontext bewusst in eine spezifische Richtung und Ausprägung hin entwickeln?
Kultur ist noch nie zweckfrei gewesen. Für mich steht allerdings mit Blick auf die Arbeitswelt eine andere kulturelle Differenzierung im Vordergrund, wie sie, nebst anderen, zum Beispiel auch der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt, nämlich eine kulturelle Polarisierung des Arbeitsmarktes: Während die Relevanz der Industriearbeiter und der klassischen Angestelltenberufe abnimmt, wächst einerseits der Bereich der hochqualifizierten Wissensarbeit, andererseits das Segment einer niedrigqualifizierten Service Class. Das heisst: Gegenläufig zur Dynamik der innovativen Wissensökonomie findet im tertiären Sektor die Expansion sogenannter einfacher Dienstleistungen statt, erleichtert und vermittelt durch digitale Technologien, etwa in den Bereichen Transport, Logistik, Sicherheit, Touristik. Das wiederum heisst: Es existieren zwei diametral entgegengesetzte neue Arbeitswelten nebeneinander, die unterschiedlichen Logiken postindustrieller Arbeit folgen. Die von Ihnen erwähnte funktionale Ausdifferenzierung der Arbeitskultur betrifft vorzüglich das expandierende Feld der Wissensarbeit: subjektivierte Tätigkeiten mit hohem Identifikationspotenzial und hoher gesellschaftlicher Anerkennung, komplex, kognitiv und innovativ, aufbauend auf intrinsischer Motivation (und nicht selten Selbstausbeutung) unter Einbezug der gesamten Persönlichkeit inklusive kommunikativer und emotionaler Kompetenzen (die also gleichfalls ökonomisiert werden). Schliesslich wäre die Frage nach einer «Leistungskultur» wiederum eine separate. Ich möchte dagegenhalten, dass die spätmoderne Marktgesellschaft immer stärker erfolgsorientiert und immer weniger leistungsorientiert ist.
Kultur gilt als in der Regel menschengemacht. – Digitalisierung assoziiert eher Technik- und Effizienzorientierung: Was hat der Mensch in der Arbeitskultur der Zukunft noch zu melden?
Technik- und Effizienzorientierung sind ebenfalls menschengemacht. Grundlegend für eine neue Arbeitskultur muss jenseits von sogenannten Digitalkompetenzen die Besinnung auf das sein, was wir gegenüber der Künstlichen Intelligenz als Eigenes behaupten können. Im Gegensatz zur Künstlichen Intelligenz sind menschliche Kompetenzen und Bewusstseinsinhalte leiblich situiert, in organische Lebensvollzüge eingelassen, vergesellschaftet, in soziale Beziehungen und Praktiken verstrickt, und realisieren sich sowohl handelnd, in die Welt eingreifend, wie auch erlebend, performativ. Es wird oft ignoriert oder gar tabuisiert, dass wir der formallogischen Intelligenz der Maschine die Endlichkeit voraushaben. Sowie die Fähigkeit, eine Ausnahme zu machen. Das ist für den Algorithmus schwierig.
In der Postmoderne stellt sich die Frage danach, ob eine (einheitliche) Arbeitskultur in einem Betrieb angestrebt werden kann, oder ob sich diese divers und polyzentrisch in den einzelnen Abteilungen oder Teams entwickelt. Wagen Sie eine Prognose? Was müssten nach Ihnen Aufgaben und Ziele von Kulturentwicklungen in den Betrieben sein?
Wenn Sie mich fragen: Die Postmoderne ist vorbei. Wir leben in der Spätmoderne, die sich auszeichnet durch eine Polarisierung der Arbeitsmärkte und ihrer Kultur (Stichwort: lovely jobs vs. lousy jobs), aber auch der Konsumgütermärkte, Konsumstile und der Güterstruktur: auf der einen Seite komplexe Wissensgüter, die Expertise voraussetzen in der Herstellung wie im Gebrauch und dem Konsumenten symbolischen Wert versprechen, mit hoher emotionaler Bindung und Identifikationspotenzial. Und andererseits eine Flut globaler Billigware, die sich in erster Linie über den niedrigen Preis definiert. Es ist meines Erachtens von entscheidender Wichtigkeit, Fragen der Arbeitskultur nicht isoliert zu betrachten, sondern in Zusammenhang mit Fragen der Konsumkultur, von denen sie nicht zu trennen sind. Eine solche Frage wäre zum Beispiel: Will man Sinn produzieren oder Ramsch?
Detaillierte Informationen zum 3. St.Galler New Work Forum vom 8. Januar 2020 sind hier zu finden.