«Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit. Wir sind Kinder der Familie, in die wir hineingeboren wurden, Kinder des Ortes oder der Orte, an denen wir aufgewachsen sind, und Kinder der Zeit, die unsere Vorstellungen, unsere Wertehaltung und unser Denken geprägt hat». In ihrer Eröffnungsrede zur Tagung «Die soziale Seite der Kindheit» verweist Prof. Dr. Maren Zeller vom Veranstaltungsteam der OST auf die prägende Kraft gesellschaftlicher Trends und Diskurse, welche das Aufwachsen von Kindern mitbestimmen.
An den Themen Gesundheit, Bildung und Elternschaft skizziert sie, welche «diskursiven Rahmungen von Kindheit» sich aktuell beobachten lassen. Dabei stellt sie eine Tendenz zur Individualisierung und eine gesellschaftliche Neigung zur Optimierung von Kindheit fest: Regulationsstörungen, Früherkennung, Bildungsprobleme und problematische Verhaltensweisen sollen professionell bearbeitet und erforscht werden, damit das zukünftige Zusammenleben funktioniert. Gefragt ist das «normale Superkind», das nicht von der Norm abweichen und zugleich überdurchschnittliche Leistungen erbringen soll. Bei den aktuellen Diskussionen geraten die sozialen Bedingungen des Aufwachsens zunehmend aus dem Blick. «Besonders wichtig sind Bildungsräume für Kinder, die nicht zweckgebunden sind, ein guter Umgang mit Vielfalt und pädagogische Konzepte, welche die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen in den Mittelpunkt stellen», so die Forscherin.
In sieben verschiedenen Workshops vertieften die Teilnehmenden vielfältige Themen und formulierten Anliegen für die Agenda «Kindheit sozial(er) gestalten», die am Schlusspodium mit prominenten Fachpersonen diskutiert wurden. Regierungsrätin Laura Bucher, Vorsteherin des Departements des Innern des Kantons St.Gallen, unterstützt die Forderung, Kinder als politische Akteure ernst zu nehmen, sie einzubeziehen und ihnen mehr institutionalisierte Einflussmöglichkeiten zuzugestehen. «Um die Interessen von Kindern zu stärken, muss vor allem auf Gemeindeebene angesetzt werden», so ihre Überzeugung. «Es braucht ein politisches Commitment, dass Kinder und Jugendliche als gestaltender Teil der Gesellschaft anerkannt und aktiv ins politische Geschehen einbezogen werden sollen.»
Thomas Jaun vom Vorstand der Alliance Enfance macht sich auf dem Podium für eine Vernetzung der Fachpersonen stark und spricht sich dafür aus, Kindern mit Zutrauen zu begegnen. «Je nach Alter haben Kinder unterschiedliche Zugänge, um ihre Bedürfnisse zu formulieren. Fachpersonen leisten hier Übersetzungsarbeit, um die Anliegen und Bedürfnisse der Kinder adäquat zu kommunizieren», so seine Einschätzung. Das zugehörige Rüstzeug sollte in der Ausbildung zur Sozialen Arbeit vermittelt werden. Katja Cavalleri Hug von der Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz knüpft bei der stationären Kinder- und Jugendhilfe an und verweist auf die belastende Situation von Fachpersonen. «Es braucht genügend zeitliche und personelle Ressourcen für eine fachliche Reflexion und Begleitung. Im stationären Bereich ist es wichtig, die Vertrauenspersonen der Kinder zu stärken, Rollen genau zu definieren und die Kinder mit einzubeziehen.» Andreas Lustenberger von Caritas Schweiz plädiert dafür, ein Bewusstsein für unterschiedliche Lebensrealitäten zu schaffen, vertrauensvolle Netzwerke aufzubauen und den Zugang zur Bevölkerung zu verbessern. «Überdurchschnittlich viele Kinder leben in finanziell prekären Situationen. Sozialhilfe ist immer noch mit Druck und Scham verbunden. Um Kinderarmut abzubauen, muss der Zugang zu finanziell belasteten Familien verbessert werden», so sein Statement.
Die beiden Moderatorinnen Mandy Falkenreck und Bettina Grubenmann von der OST identifizieren Anliegen auf politischer, rechtlicher, professioneller und struktureller Ebene für eine Agenda, wie Kinder als eigenständige Akteure einbezogen und sich Kindheit sozial(er) gestalten lässt. Bei den Herausforderungen gehe es immer auch darum, am Thema dranzubleiben – ganz im Sinne einer Podiumsteilnehmerin, die ans Publikum appelliert: «Seid mutig, geht auch mal einen Schritt weiter, bleibt aktiv!»