Nach einem Jahr Unterbruch ist er endlich zurück: Der Kulturzyklus Kontrast des Departements Soziale Arbeit. «Wir haben die Durchführung gewagt, auch wenn wir dafür kritisiert wurden», sagte Stefan Ribler, Projektleiter Kulturzyklus Kontrast. Von Corona und den damit verbundenen Auflagen liess man sich dieses Jahr nicht abhalten, so dass am 3. und 5. November 2021 mit Autor Christoph Keller und Stand-up Comedian Edwin Ramirez zwei Menschen mit Beeinträchtigungen ihr künstlerisches Schaffen dem Publikum präsentieren konnten.
Splitter-Lesung
Den Auftakt zum Kulturzyklus Kontrast 2021 machte der preisgekrönte St. Galler Autor Christoph Keller. Er stand bei den Organisatoren bereits seit Lancierung der Veranstaltungsreihe 2014 auf der Wunschliste. Jetzt, für die insgesamt siebte Durchführung, hat es endlich geklappt. Keller hatte sein Werk «Jeder Krüppel ein Superheld: Splitter aus dem Leben in der Exklusion» mit im Gepäck und gab während seiner Lesung Einblick in das Leben eines an Spinaler Muskelatrophie (SMA) erkrankten Menschen. SMA führt zu Muskelschwund und Lähmungen. Über die Anfänge der Erkrankung las Keller zu Beginn ein Gedicht vor:
Ich, vierjährig: knie im Sandkasten – kaure nicht wie die anderen Kinder – (du siehst aus wie ein Wiener Schnitzel, sagt meine Mutter).
Ich, sechsjährig: eine totale Niete im Seilhüpfen (das ist sowieso nur für Mädchen, sagt mein Vater).
Ich, zehnjährig: der langsamste Läufer der Schule (muss nicht immer einer der langsamste Läufer sein?, frage ich).
Ein Gedicht in einem Buch über das Leben mit einer progressiven Erkrankung mag erstaunen. Doch Christoph Keller, der 20 Jahre lang in New York lebte, setzte für dieses Werk bewusst nicht auf die klassische Erzählung und wollte ebenso wenig eine schöne Prosa veröffentlichen. Vielmehr finden sich im Buch nebst Gedichten auch Essays, Aphorismen, Überlegungen, längere Erzählungen und sogar ein kleines Theaterstück sowie Fotografien. Splitter eben. Splitter aus dem Leben in der Exklusion.
«Manchmal ist es einfacher, sich selbst nicht so ernst zu nehmen»
Es ist ein Abend mit vielen lachenden Gesichtern. Der Zürcher Stand-up Comedian Edwin «Eddie» Ramirez schildert in skurrilen Dialogen und schräg anmutenden Szenen seine Alltagserfahrungen als Rollstuhlfahrer. Ramirez erzählt mit Leichtigkeit und trockenem Humor. Dabei karikiert und parodiert er seine Figuren mit feiner Ironie. Gezielt setzt er seine rauchig markante Stimme für Geschichten und Pointen ein. Die stimmliche Färbung rührt von einem Luftröhrenschnitt her, der bei seiner Geburt die Stimmbänder beschädigt hat. Dies wird zu seinem Markenzeichen.
Edwin Ramirez ist ein Grenzgänger, sein T-Shirt ein Statement. Darauf zu sehen ist ein weibliches Venus- und männliches Marssymbol verbunden mit einem angedeuteten Rollstuhl. Ein Hinweis auf seine queere Identität. Er selbst bezeichnet sich als Afro-Latino-Stand-Up-Comedian, Tänzer, Dichter und Performance-Künstler mit Behinderung, der sich zwischen den Geschlechtern bewegt und nicht in Schubladen gesteckt werden will. Im Gespräch nach der Vorstellung mit Inklusionsagenten Cem Kirmizitoprak von der St.Galler Beratungsstelle Inklusion herrscht ein heiterer Ton. Und es wird spürbar, wie sehr es alle Anwesenden schätzen, sich wieder persönlich zu begegnen.
Mitfühlen durch Geschichten
«Ich habe immer schon gerne Geschichten erzählt und meinen Humor dazu genutzt, um meine Erlebnisse und Gedanken aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten», erklärt Edwin Ramirez. «Viele Leute können sich über den Humor in die Situation von Rollstuhlfahrern hineinversetzen und die Momente miterleben und mitfühlen». So auch das Publikum an diesem unterhaltsamen Abend. «Humor hilft aber auch im eigenen Umgang mit alltäglichen Hindernissen und Diskriminierungserfahrungen». Es kann selbstermächtigend sein, mit der eigenen Behinderung humorvoll umzugehen. «Manchmal ist es einfacher, sich selbst nicht so ernst zu nehmen».
Inklusiv ist der Kulturbereich noch lange nicht. Es gibt noch viel zu tun. Denn Kunst ist eine Bereicherung und ein Weg, um als Mensch sichtbar zu werden. Als behinderte Person auf der Bühne zu stehen, kann auch eine therapeutische Wirkung entfalten. Dies hat der Künstler an sich selbst erfahren. Seit er Comedy macht, ist er aufgeblüht. Dass diese Arbeit überhaupt eine Option wäre, sei ihm gar nie in den Sinn gekommen. Bei der Berufswahl hiess es lakonisch: «entweder ins Büro oder in die Werkstatt, etwas anderes gibt es nicht». Doch sein Erfolg beweist das Gegenteil. In Zukunft will sich Edwin Ramirez ganz seiner Künstlerkarriere widmen und seinen Job als kaufmännischer Angestellter an den Nagel hängen.